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Sonntag, 19. Dezember 2021

Vier (+ 2) Bücher für ... die 30er

Zu Beginn des Jahres habe ich mir ein Wort überlegt, welches mich 2021 begleiten sollte. Es wurde »Gelassenheit« und ich kann schon mal verraten, dass das mit der Gelassenheit in diesem Jahr nicht so wirklich oft geklappt hat. Nicht besser als in jedem anderen Jahr. Wahrscheinlich war das mit mir und der Gelassenheit schon kein guter Start, denn als ich hochmotiviert das Wort in meinen Kalender geschrieben habe, habe ich mich direkt zweimal verschrieben. Sieht man dank einem weißen Korrekturstift nicht mehr ganz so stark auf der Seite, aber war schon der erste harte Test für meine Gelassenheit, weil es eben nicht perfekt aussieht. So ging es dann auch weiter. Gelassen sein und gelassen bleiben sind nicht gerade meine Stärke, obwohl ich stark hoffe, dass das mit dem Alter besser wird.

Und mit dieser genialen Überleitung kommen wir auch zur Überschrift dieses Beitrags. Vier (+ 2) Bücher, die sich famos lesen lassen, wenn man über 30 ist. Wenn man eigentlich irgendwie erwachsen sein soll und gleichzeitig vor jedem organisatorischen Telefonat drei Stunden panisch die Wand anstarrt. Wenn man keine Lust hat »Vater, Mutter, Kind« zu spielen und stattdessen lieber selber den ganzen Schokopudding essen will, während man Disney-Filme guckt. Wenn man sich bei der Arbeit fragt, wie es dazu kam, dass man plötzlich nicht mehr bei den Praktikant*innen und Volontär*innen sitzen darf, obwohl das Impostor-Syndrom doch so hart kickt. Willkommen in meinem Kopf. Da hat die Gelassenheit dann eben doch nicht so viel Platz, wie sie sollte. Stattdessen wurde das hier gelesen:

»Ich denk, ich denk zu viel« von Nina Kunz.
192 Seiten voll mit angestrichenen Sätzen, denen man nur immer wieder zustimmen kann. Gibt es nach der Lektüre eines Buches etwas schöneres zu sagen? Nina Kunz spricht mir aus der Seele und vielleicht auch meiner ganzen Generation, welche auch immer das sein mag. Die Literaturliste am Ende des Buches ist voll mit Markierungen der Bücher, die ich demnächst unbedingt lesen möchte. Aber wie sagt Nina Kunz so richtig? »Ich habe keine Zeit mehr, um Bücher zu lesen, schließlich vergeude ich meine Zeit im Internet.« (Seite 55) und trotzdem: »Pro Woche lese ich mindestens ein Buch, und mein Buchhändler weiß seit zehn Jahren, wann mein Geburtstag ist.« (Seite 167). Zwischen diesen Widersprüchen finden sich kluge Gedanken zu Butterbroten, Feminismus, Tattoos und den Gedanken an sich.

»Verzweiflungstaten« von Megan Nolan.
Glückliche Beziehung gibt es in dieser Liste leider nicht, tut mir leid. Stattdessen hören wir der namenlosen Ich-Erzählerin in »Verzweiflungstaten« dabei zu, wie sie über ihre Beziehung zu Ciaran erzählt. Schon früh kristallisiert sich heraus, dass diese Beziehung kein gutes Ende nehmen wird. Die Protagonistin stürzt sich immer mehr in eine toxische Abhängigkeit zu ihrem vermeintlich perfekten Partner, bis zum großen, leisen Knall. Das tut weh und sorgt beim Lesen für ein unangenehmes Ziehen im Herzen. Begleitend zum Buch kann ich den dazugehörigen Podcast von Anne Sauer und Tobias Börner sehr empfehlen.
Originaltitel: »Acts of Desperation« - Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn - 2021 erschienen bei Blumenbar

»Nichts tun« von Jenny Odell.
»Das Wesentliche am Nichtstun, so wie ich es definiere, ist nicht etwa, erfrischt und bereit zu gesteigerter Produktivität an die Arbeit zurückzukehren, sondern vielmehr zu hinterfragen, was wir derzeit als produktiv wahrnehmen.« (Seite 11) – Jenny Odell nimmt uns in diesem Essay mit zu einem Spaziergang, um darüber nachzudenken, wohin unsere Aufmerksamkeit wandert und warum. Nichtstun als Kontrast zur ständigen Angst, etwas zu verpassen, ständig nach dem Handy zu greifen (allein während ich diesen Beitrag schreibe, habe ich alle paar Minuten zum Handy gegriffen, bis ich es entnervt ans andere Ende des Tisches gelegt habe, um wenigstens für 10 Minuten konzentriert zu sein), ständig sich selbst optimieren zu wollen. Nach der Lektüre will man nicht nichts tun, sondern direkt weitere kluge Bücher lesen. Am liebsten von Rebecca Solnit (zu der wir später noch einmal kommen).
Originaltitel: »How to Do Nothing« - Aus dem Englischen von Annabel Zettel - 2021 erschienen bei C.H.Beck - Danke für das Rezensionsexemplar

»About shame« von Laura Späth.
Für was habt ihr euch zuletzt geschämt? Scham und Scheitern gehören zum Leben dazu und doch sind es Gefühle, die wir tunlichst vermeiden und unter den Teppich kehren wollen (Oh nein. Noch mehr Hausarbeit). Laura Späth spricht über die Scham im Allgemeinen, aber auch davon, welchen Stellenwert Schamgefühle in ihrem eigenen Leben haben. Durch vielen unterschiedlichen Kontexte der Scham bekommt man hier einen breit aufgestellten Überblick zu einem oft vernachlässigten Thema. Mit der Scham ist man nicht allein – kein Grund also sich zu schämen. 
Originalausgabe - 2021 erschienen bei &Töchter - Danke für das Rezensionsexemplar

»Hitze« von Raven Leilani.
Manchmal ist es auch in Ordnung, wenn man sich über Protagonist*innen ärgert. Über eigene Entscheidungen ärgert man sich schließlich auch häufig. Und so hat mich in »Hitze« Edie zur Verzweiflung gebracht. Edie arbeitet als Assistentin in einem Verlag, sucht nach einem Sinn in ihrem Leben und stürzt sich von einer Affäre in die nächste. Bis sie Eric kennenlernt, der eine offene Ehe führt und Edie nicht nur seiner Ehefrau vorstellt, sondern auch seiner Adoptivtochter Akila. Zwischen Edie, Eric, Rebecca und Akila entspinnt sich eine absurde Viereck-Beziehung, nachdem Edie bei der Familie einzieht. Sex, Rassismus, Gewalt, Orientierungslosigkeit und die Suche nach sich selbst werden hier zu einem quietschbunten Eisbecher mit Streuseln vermischt, der einen eigenartigen Geschmack im Mund hinterlässt. 
Originaltitel: »Luster« - Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz - 2021 erschienen bei Atlantik - 2021 - Danke für das Rezensionsexemplar

»Nie, Nie, Nie« von Linn Strømsborg.
Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird sich dieses Buch auch auf meinem Jahreshighlight-Stapel wiederfinden. Kein anderes Buch hat mich in diesem Jahr so stark persönlich berührt wie »Nie, Nie, Nie«. Linn Strømsborg verpackt darin die Mutter aller Fragen (und wer die nicht kennt, fragt am besten Rebecca Solnit) in einer leisen, berührenden, alltäglichen Geschichte, die sich mit vielen wahren, guten Sätzen schmückt. Die Protagonistin möchte keine Kinder und spricht davon, wie ihr Umfeld, ihre Familie, ihre Partner, die Gesellschaft immer wieder an dieser Entscheidung ruckeln. Egal, wie die eigene Einstellung zu dieser Frage ist, »Nie, Nie, Nie« ist eine berührende Lektüre zur Selbstbestimmung über das eigene Leben und den lauten und leisen Ansprüchen, die an uns alle gestellt werden. Und dazu findet sich in diesem Buch einer meiner Lieblingssätze:
»Ich will nicht sagen, man müsse sich zwischen einer Familie und einem Fahrradkorb voller Bücher entscheiden – aber ich will nur den Fahrradkorb.« (Seite 192)
Originaltitel: »Aldri, aldri, Aldri« - Aus dem Norwegischen von Stefan Pluschkat - 2021 erschienen bei DuMont - 2021

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