Originalausgabe - Erschienen im Luchterhand Literaturverlag - März 2019 - Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar!
"Herkunft" ist ein Buch über den ersten Zufall unserer Biografie: irgendwo geboren werden. Und was danach kommt.
Saša Stanišić gehört zu meinen persönlichen Lieblingsautoren – und das schon sehr lange wie ein Blick ins Archiv zeigt ("Vor dem Fest" im Januar 2015, "Fallensteller" im Mai 2016, Lesungsbericht im Juni 2016). Nun ist also mit "Herkunft" ein weiteres Buch von ihm erschienen, welches ich mit viel Vorfreude erwartet habe. "Herkunft" also. Schweres Thema. Großes Thema.
In "Herkunft" verwebt Saša Stanišić Realität und Fiktion zu (s)einem persönlichen Herkunftsmythos, erzählt, erfindet, erschafft einen eigenen Herkunftsteppich voller Geschichte und Geschichten. Und Drachen.
"Früher hatte Großmutter behauptet - da war ich zehn oder fünf oder sieben -, ich würde niemals täuschen und lügen, sondern immer nur übertreiben und erfinden." (S. 19)
Wohl jeder Text über Stanišić spricht nicht nur vom "Sprachzauberer", sondern auch von seiner Herkunft – Jugoslawien wohl. Oder halt auch nicht. Vielleicht Višegrad, vielleicht Oskoruša, vielleicht Heidelberg, vielleicht Hamburg. Vielleicht einfach alles davon und noch mehr oder weniger.
Nun spricht Stanišić selbst über Herkunft und was das überhaupt ist und bedeutet. Erzählt die eigene Familiengeschichte, die sich so oder so ähnlich zugetragen hat oder haben könnte. Kein roter Faden führt uns, sondern ein unzuverlässiger Erzähler, der sich selbst und seinen Erinnerungen nicht geheuer ist. Und erschafft dabei wieder diese Sprachbilder (Zauberer, ne!), bei denen mein Bleistift hektisch zuckt, weil sie so schön sind.
Stanišić spielt nicht nur mit den Erinnerungen, sondern auch mit seinen Leser*innen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Am Ende des Buches gibt es kein Ende. Jedenfalls kein einheitliches. Denn der/die Leser*in entscheidet selbst, wie die Geschichte endet – "Choose your own adventure". So wie damals bei "Die Insel der 1000 Gefahren". Das hat mich schon als Kind fürchterlich gestresst. Ich will alle Enden kennen! Das gilt auch für "Herkunft". Wobei ich mich bisher zusammengerissen habe und nur eine - meine - Version gelesen habe.
"Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschütterung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. Ich muss nachdenken, um mich zu erinnern, wie die Kinder meiner Cousinen heißen. An den Gräbern meiner Großeltern mütterlicherseits habe ich noch kein einziges Mal eine Kerze angezündet." (S. 212)
"Herkunft" erzählt davon, wie es ist mit 14 aus einem kriegserschütterten Land zu fliehen. Wie man versucht, in einem Land Fuß zu fassen, das einem so fremd und kühl erscheint. Wie man die eigene Herkunft bewahren will und sich deswegen eine neue erfindet.
Eselsohren pflastern meinen Weg durch dieses Buch und ich finde, das ist ein gutes Zeichen.
Auf der Leipziger Buchmesse habe ich die Lesung mit Saša Stanišić leider verpasst (was dann aber doch noch passiert ist, kann man hier nachlesen), umso mehr freue ich mich auf die Lesung im Literaturhaus München am 08.05.2019. – ich werde dann noch davon berichten (soweit ich gesehen habe, kommt das Wort "Brezel" bzw. "Breze" nicht vor. So schlimm wie beim letzten Mal kann es also nicht werden).