Originalausgabe - Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch - 2018
Sonntagvormittag. Ich habe das Literaturhaus noch nie so hell gesehen, was hauptsächlich daran liegt, dass die meisten Veranstaltungen, die ich dort besuche, in den Abendstunden stattfinden. Dieses Mal nicht. Dieses Mal gibt es eine Matinée im Rahmen des derzeit laufenden Literaturfests. Zu Gast ist Maxim Biller, der seinen im August dieses Jahres erschienenen Roman "Sechs Koffer" vorstellt. Mit eben jenem Roman gelang Biller der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 und "Sechs Koffer" gehört damit - laut Einführung des Literaturhauses - zu den sechs besten Büchern des Jahres.
So viel Lob scheint Biller unangenehm zu sein. Erste Amtshandlung auf der Bühne: Pullover ausziehen, mit dem darunterliegenden Jeanshemd sieht man direkt jugendlich-frisch aus und passt sich damit ans überraschend junge Publikum im ausverkauften Literaturhaus an. Der erste Lacher, als Moderator Georg M. Oswald eine kurze Zusammenfassung von "Sechs Koffer" liefern möchte: "Was, noch eine Einführung?"
Aber worum geht es eigentlich in "Sechs Koffer"? Ist es eine biografische Erzählung über das große Geheimnis der Familie Biller? Sind es die kindlichen Erinnerungen eines Jungen ohne Heimat? Gibt es im Buch wirklich sechs Perspektiven oder nur die eine, die des namenlosen Ich-Erzählers? Was will "Sechs Koffer"?
Wie schwierig die Beantwortung dieser Fragen ist, merkt man schon daran, dass es selbst für die Literaturkritiker schwierig ist, zwischen der Figur des Autors und der Figur des Erzählers in "Sechs Koffer" zu unterscheiden. Ja, da erzählt ein Junge von seiner Familie und dem Geheimnis rund um den Tod seines Großvaters, der angeblich von seinem eigenen Sohn verraten und so vom KGB zum Tode verurteilt wurde. Ja, diese Geschichte könnte auch die von Maxim Billers Familie sein, doch: "Das ist nicht meine Schwester. Das sind nur Buchstaben", sagt der Autor zur Frage, ob das Buch seiner Schwester Elena Lappin "In welcher Sprache träume ich?" ihn zum Schreiben von "Sechs Koffer" inspiriert hat.
Inspiriert habe ihn viel mehr das Geld, denn das Buch entstand nur, weil er für das SZ-Magazin zwei Geschichten über seinen Vater und seine Mutter schreiben sollte. So jedenfalls Billers eigene Erklärung. Und er verstehe auch gar nicht, warum ausgerechnet dieses Buch, das er selbst nicht mag, es so leicht bei den Kritikern hatte. Kokettiert er hier mit dem Lob, dem Erfolg? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch echte Verwunderung, warum ein 198-Seiten schmales Büchlein so viel mehr Interesse bei den Leserinnen und Lesern erhält als sein vorheriges Buch "Biografie". "Vielleicht wollten die Deutschen damit etwas beim jüdischen Schriftsteller wiedergutmachen! Das ist ja immer ein Thema."
Zack. Da ist es. Das Thema. Sein Thema. Das Jüdisch-Sein. Erst vor ein paar Wochen habe ich "Desintegriert euch" von Max Czollek gelesen, eine Streitschrift gegen das deutsch-jüdische Gedächtnistheater. Dort schreibt Czollek auch über Biller:
"Da nämlich die Lebendigkeit der Juden ein Symbol für die Wiedergutwerdung der Deutschen ist, stellt schlicht alles, was sie tun, eine Befriedigung des deutschen Begehrens dar. Völlig unabhängig davon, was sie konkret machen. Angesichts dieser Ausweglosigkeit kann es für Juden und Jüdinnen eine besondere Freude sein, Widerspruch zu erregen. Das erklärt vielleicht die Lust, mit der Leute wie Maxim Biller, Henryk M. Broder oder Michel Friedman immer wieder die Auseinandersetzung suchten und suchen." (Seite 123)
"Sie sind doch so süß, warum müssen Sie immer so betonen, dass Sie Jude sind?", zitiert Biller eine Sekretärin der Münchner Journalistenschule in den 70er Jahren.
Diese Reibung mit den öffentlichen Erwartungen ist es, was wohl den Reiz an Maxim Biller ausmacht. Als die Sprache auf sein Ausscheidung im Literarischen Quartett kommt, nickt das Publikum synchron mit bei der Feststellung des Moderators, dass doch er, Biller, einen großen Unterhaltungswert hatte. Und wie war das eigentlich, als das eigene Buch dann dort besprochen wurde?
"Volker war ein bisschen müde."
Über das Lob von Christine Westermann, der einstigen Gegenspielerin im Quartett, habe man sich aber gefreut, die Kritik der beiden anderen Damen wird hingegen kurz abgewunken.
Und dann, dann ist die Matinée schon fast wieder vorbei, Herr Biller muss zum Essen. Er liest noch einen Teil aus "Sechs Koffer" und scheint weiterhin verwirrt, was es ausgerechnet mit "Sechs Koffer" auf sich hat.
Für mich liegt der Grund in der menschlichen Neugierde. Was ist wahr? Was ist Fiktion? Und wer hat nun den Großvater verraten?
„Weil ich keine Geheimnisse mag.“, sagt der Protagonist in "Sechs Koffer" auf die Frage, warum er so viel über seine Familie schreiben würde. Maxim Biller tut es ihm gleich, erzählt von eben jenen Geheimnissen. Ungekünstelt. Ohne Lösung.