Originalausgabe - Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch - 2016
Benjamin von Stuckrad-Barre erzählt eine Geschichte, wie man sie sich nicht ausdenken kann: Er wollte den Rockstar-Taumel und das Rockstar-Leben, bekam beides und folgerichtig auch den Rockstar-Absturz. Früher Ruhm, Realitätsverlust, Drogenabhängigkeit. Udo Lindenbergs rebellische Märchenlieder prägten und verführten ihn, doch Udo selbst wird Freund und später Retter. Und dann eine Selbstfindung am dafür unwahrscheinlichsten Ort – im mythenumrankten Hotel »Chateau Marmont« in Hollywood. Was als Rückzug und Klausur geplant war, erweist sich als Rückkehr ins Schreiben und in ein Leben als Roman. Drumherum tobt der Rausch, der Erzähler bleibt diesmal nüchtern. Schreibend erinnert er sich an seine Träume und Helden – und trifft viele von ihnen wieder, am Ende auch sich selbst.
Zum Einstieg: Ich bin kein Fan von Udo Lindenberg. Ehrlich gesagt habe ich den Herren mit dem Hut und der Sonnenbrille und dem Wohnsitz im Hotel nicht wirklich als Musiker in meinem Kopf gespeichert. Der tritt manchmal im Fernsehen auf, oder? Und will mit einem Sonderzug nach Pankow. Musicalreif. Mehr Assoziationen gibt es bei mir nicht.
Bei Benjamin von Stuckrad-Barre sieht das schon anders aus. Während der Ausbildung zur Buchhändlerin hat mir ein lieber Kollege sowohl "Soloalbum" als auch "Livealbum" ans Herz gelegt. Das ist nun aber fast 10 Jahre her, 2008 wurden die beiden Bücher mit Freude von mir gelesen. Danach ebbte die Beziehung zwischen Stucki und mir ab. Zuletzt habe ich ihn in einer alten Folge der Harald Schmidt Show gesehen, eine gar großartige Folge, in der Harald Schmidt als Claus Peyman mit Benjamin von Stuckrad-Barre eine Hose kaufen geht (mit der Chronologie hab ich es nicht so, Herr Gatsby und ich gucken uns häufig sehr alte Folgen von Harald Schmidt an).
"Ich habe einen Knoten im Kopf: Wenn Ellis etwas vorgeblich Selbstbezeugtes live überträgt, ohne selbst dabei zu sein, und wenn ich hier auf dem Balkon stehe, auf dem sein Held stand in dem Buch, das es gar nicht gibt, und wenn Knausgård jetzt also 600 Seiten lang Milch einkaufen ginge – was zur Hölle würde das dann alles bedeuten?", Seite 212.
Nun also "Panikherz", Stuckrad-Barres Denkmal an Udo Lindenberg. Denn genau das ist es. Ein Denkmal an einen Künstler, der ein ganzes Leben geformt hat. Unbewusst. Und so sehr der Spruch auf dem Cover-Sticker am Anfang noch absurd wirkt ("Es ist schon ein Flash, das mal so im Ganzen zu lesen, wie meine Songs da durch ein ganzes Leben geistern." – Udo Lindenberg), so wahr ist er doch, wenn man die 564 Seiten beendet hat.
"Ich sitze mit Udo auf dem Balkon, wir schauen auf den Pool. Nichts ist ja schöner als ein beleuchteter Pool bei Nacht, dieses schimmernde Türkis, automatisch blickanziehend, wie ein Glas Absinth oder das grüne Licht im großen Gatsby.", Seite 67.
Benjamin von Stuckrad-Barre (darf ich an dieser Stelle kurz erwähnen, dass ich mir bei diesem Namen ein wohliger Schauer über den Rücken fährt? Kann man in einen Namen verliebt sein? Anscheinend schon) entblößt sich bis aufs Letzte und macht den Leser zum heimlichen Beobachter eines Verfalls, eines Absturz mit Ansage. Vom Plakatekleber zum Gag-Schreiber für Harald Schmidt, vom Bestseller-Autor zum Patienten in einer, nein, mehreren Entzugskliniken. Benjamin von Stuckrad-Barre ist magersüchtig, kokainabhängig, musikbegeistert, talentiert, nervlich am Abgrund. Und im Gegensatz zu anderen Romanen über Drogenabhängigkeit schafft es Stucki mich mit jeder Seite, mit jeder Zeile mehr an sich zu fesseln. Und dann ist da noch Udo Lindenberg.
"... und obwohl selbst in der niedersächsischen Einöde aufgewachsen, empfand auch ich mich als Gesinnungsnorddeutscher und Kind des Nordseestrandes, der Hafen war auch mein Sehnsuchtsgebiet, da bekam ich Heimweh der verlässlichsten Sorte, nämlich nach einer Heimat, die es nie gegeben hat.", Seite 134.
Udo Lindenberg ist nicht Benjamins Retter in strahlender Rüstung. Er ist selbst kaputt und schafft es doch auf seine ganz eigene verquere Weise dem jungen Mann die Hand zu reichen, um den Aufprall etwas abzumildern. Benjamin von Stuckrad-Barre mag seinen Kindheitshelden glorifizieren, macht das aber so herrlich sympathisch, dass man nichts zu meckern hat.
Und weil ich gerade von Kindheitshelden gesprochen habe, möchte ich eine Episode aus dem Buch hervorheben, die mir das Herz gebrochen hat. Benjamin von Stuckrad-Barre guckt sich im Drogenrausch eine neue Folge von Harald Schmidt an, in der sich diese Lichtgestalt über ihn, den gefallenen Sohn, öffentlich lustig macht. Was macht es mit einem, wenn der eigene Held einen selbst als Witzfigur betrachtet? Diese Frage stellt sich Benjamin Jahre später wieder als er mit Bret Easton Ellis in Hollywood sitzt. Was man eben so in den USA tut.
Und so zieht sich durch "Panikherz" nicht nur die Bewunderung zu Udo Lindenberg, sondern zu so vielen Berühmtheiten, die das Leben von Benjamin von Stuckrad-Barre auf die eine oder andere Weise berührt haben. Eine vorzügliche Biografie, der man ein gutes Ende wünscht. Wie auch immer das aussehen mag.
"Gut gepasst hätte jetzt diese dezent eingeschnappt klingende Navigationssystemstimme: 'Sie haben Ihr Ziel erreicht'.", Seite 66.