Dienstag, 9. März 2021

Komplett Gänsehaut von Sophie Passmann.


Originalausgabe - Erschienen bei Kiepenheuer & Witsch - 2021 - Herzlichen Dank für das Rezensionsexemplar!

"Wäre das hier eine gute Geschichte, würde all dieser Kram passieren, der im echten Leben immer höchstens fast passiert. Ich würde immer mal wieder rauchend an Bars stehen, dabei sehr jung aussehen, bestimmt würde auch an Seen gestanden und auf Bürgersteigen gesessen, an irgendeinem Punkt würde ich mit einer halben Flasche Grauburgunder durch meinen komplett bescheuerten Stadtteil laufen, die Herleitung dieser, naja, sagen wir mal, Anekdote wäre natürlich frech und ein wenig absurd, so wie das Leben mit siebenundzwanzig eben frech und absurd zu sein hat, was für eine Scheiße."

Sophie Passmann, Leute! Nach "Alte weiße Männer" folgt nun ein, ja ... was eigentlich? Roman? Sachbuch? Biografie? Autobiografie? Autofiktionales Werk? Es passt wohl jede Bezeichnung und doch keine, aber das soll hier nun auch keine Rolle spielen. "Komplett Gänsehaut" jedenfalls und das ist auch das Stichwort, so offensichtlich das auch sein mag. 

"Wohnzimmer sind dafür da, Joan Didion zu lesen und zu denken: Hä? Was soll das alles? Wer sind die Leute? Wieso ist sie immer so schlecht gelaunt, ..." (Seite 48)

In "Komplett Gänsehaut" erzählt Sophie Passmann von einer namenlosen 27-jährigen Protagonistin, die der Autorin doch erstaunlich ähnelt, aber wie war das nochmal mit Autor*in und Werk trennen? Eben! Keine falschen Schlussfolgerungen, bitte. Die Protagonistin ist umgezogen und schwelgt nun in Gedanken über Wohnungen, Städte, Menschen, das Erwachsenwerden und das Erwachsensein, Partys, Pinienkerne, Seife von Aesop, Bücherregale, Kaffeemaschinen ("Niemand braucht eine Siebträgermaschine, Jochen." Seite 121), Risottoreis und Barbourjacken. Moment, das war ein anderes Buch. Es wird auf jeden Fall viel gedacht und wenig getan, aber dafür bekommen wir alle ein Eis. 

"Wer ein Bücherregal zu Hause hat, das teurer war als der Fernseher, hat zu viel potenzielle Erbmasse in der eigenen Familie, um jetzt auch noch Sex zu verdienen." (Seite 95)

Meine Hauptbeschäftigung beim Lesen bestand daraus, meinen Bleistift nachzuspitzen, weil ich auf jeder zweiten Seite ein Wort, einen Satz, ach, ganze Absätze unterstreichen musste. Denn Sophie Passmann spricht so klug und so echt und so nah über das, was uns beschäftigt. Ja, uns. Das könnte so ein Generationending sein. Im schlechtesten und im besten Sinne. Vielleicht ist "Komplett Gänsehaut" einfach ein langer Artikel, der eigentlich in der NEON stehen sollte, wenn es die NEON noch geben würde, was auch ein bisschen amüsant ist, weil Sophie Passmann im Buch über die NEON und die Generation, die die NEON gelesen und geschrieben hat, spricht. Alles schon mal gehört, über alles schon mal ironisch gelacht, aber am Ende eben auch alles so oder so ähnlich schon mal gemacht, erlebt, gesagt. 

"Es ist vielleicht die einzige Sache, die unser Land eint: Überall Nazis, das wäre doch mal ein Thema für die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten." (Seite 100)

Und genau dafür liebe ich Sophie Passmann auch. Es ist ein bisschen zu viel, es ist ein bisschen cringe, aber es ist nie böse oder herablassend. Es ist, mit allen Höhen und Tiefen und Konfetti und geplatzten Mülltüten: Das Leben. 

"... von außen wirkt es albern, von innen ergibt das alles Sinn ..." (Seite 143)

Deswegen kann ich an dieser Stelle zugeben, dass das Bild mit dem gespitzten Bleistift leider gar nicht stimmt. Ich hatte einen Druckbleistift zum Unterstreichen und musste diesen sehr häufig drücken, aber das klingt gar nicht mal so schön. Also lieber etwas ausschmücken, etwas verstellen und einen schönen Filter darüberlegen und nochmal "Komplett Gänsehaut" in die Hand nehmen, denn davon fühle ich mich schon sehr abgeholt. 

1 Kommentar:

Livia hat gesagt…

Liebe Marina

Das Buch möchte ich auch unbedingt bald einmal lesen, deine Rezension klingt so begeistert, toll. Leider habe ich immer noch kein Buch von Sophie Passman gelesen, vielleicht sollte ich mir gleich beide kaufen.

Alles Liebe an dich und vielen Dank für diese Rezension
Livia