Samstag, 23. Dezember 2017

Ein Baum wächst in Brooklyn von Betty Smith.


Originaltitel: A Tree Grows in Brooklyn - Aus dem  Englischen von Eike Schönfeld - Erschienen im Insel Verlag - 2017 

Mit elf sitzt Francie am liebsten im Blätterdach des großen Baumsk lutscht Prefferminzbonbons und verschlingt dabei ein Buch nach dem anderen. Um sie herum brummt das Leben in den Mietskasernen von Williamsburg des noch jungen Jahrhunderts, und in der Luft liegt die Verheißung auf ein besseres Dasein. Denn sosehr Francie auch das Hier und Jetzt zu genießen weiß – sie will mehr vom Leben. Sie ist wissbegierig und klug, und schon bald lässt sie ihre ärmliche Herkunft hinter sich, um endlich das zu werden, was sie aus tiefstem Herzen sein will: Schriftstellerin.

Dank einer glücklichen Fügung konnte ich nach Aylas Empfehlung wenige Wochen später "Ein Baum wächst in Brooklyn" als Mängelexemplar in meiner liebsten Buchhandlung käuflich erwerben. Und dann kribbelte es auch direkt in den Lesefingern, weswegen ich das Buch während meines Vor-Weihnachtsurlaub in eben jene Lesefinger genommen und es nicht mehr loslassen wollte.

Eines vorweg: In den letzten Monaten hat mich kein Buch so sehr begeistern können wie "Ein Baum wächst in Brooklyn". Ich wollte es unbedingt so schnell wie möglich beenden, um jedes Wort von Betty Smith zu inhalieren. Und ich wollte nicht, dass es endet.

Wir befinden uns Anfang des 20. Jahrhunderts in Brooklyn. Die Familie von Francie ist arm. Der Vater ein singender Kellner mit Alkoholproblem. Die Mutter putzt notgedrungen andere Häuser. Die Kinder suchen Schrott, um ihn beim Schrotthändler zu verkaufen. In all dem Elend versucht Francies Mutter eine bessere Zukunft für ihre Kinder aufzubauen. Dazu gehört zum Beispiel die wiederholte Lektüre der Bibel. Und der gesammelten Werke von Shakespeare. Bei Francie fruchten die Bemühungen, sie ist regelmäßig in der Bibliothek und möchte jeden Tag ein Buch lesen. Außer am Samstag. Da werden zwei Bücher gelesen!

"Endlich zu Hause, war nun die Zeit, auf die sie sich die ganze Woche schon gefreut hatte: Feuerleiterzeit. Sie legte einen kleinen Teppich auf den Treppenabsatz, holte das Kissen von ihrem Bett und lehnte es an die Stäbe. Zum Glück war Eis im Eisschrank. Sie hackte ein Stückchen davon ab und tat es in ein Glas Wasser. Die am Vormittag gekauften rosa-weißen Pfefferminzwaffeln wurden in einer kleinen Schale arrangiert, die zwar einen Sprung hatte, aber schön blau war. Glas, Schale und Buch reihte sie auf dem Fenstersims auf, dann stieg sie auf die Feuerleiter." (Seite 35)

Francie hatte schon 1912 ein Gefühl für Bookstagram! 

Betty Smith erzählt mit eindrucksvoller Genauigkeit vom Leben in Brooklyn und was Armut wirklich bedeutet. Alle Gedanken von Katie, Francies Mutter, kreisen um Geld. Wie kann sie das Essen bezahlen? Wie die Hebamme, als sie ihr zweites Kind zur Welt bekommt? Woher das Geld für den Umzug nehmen? Und was mich hier besonders beschäftigt hat: Wir reden hier winzigen Beträgen. Das Suppengemüse kostet 2 Cent. Francie und ihr Bruder Neeley arbeiten zeitweise in einer Bar und erhalten dafür jeweils 2 Dollar die Woche. 

Neben Geld ist das zweite zentrale Thema in "Ein Baum wächst in Brooklyn" Bildung. Katie ist der Meinung, dass Bildung allein der Schlüssel für ein besseres Leben ist. Ihre eigene Mutter konnte nicht lesen und hat alles daran gesetzt, dass ihre Kinder lesen lernen. Katie selbst kann lesen und setzt nun alles daran, dass ihre Kinder in der Schule gut abschneiden. Denn mit einem Highschool-Abschluss wäre es ihnen endlich möglich, Brooklyn hinter sich zu lassen, gutes Geld zu verdienen und ein besseres Leben zu leben. So jedenfalls der Plan. 

Betty Smith gelingt es mit ihren Schilderungen, ein Bewusstsein für das Leben in der damaligen Zeit zu schaffen, ohne einen Geschichtsvortrag daraus zu machen. Überhaupt hat die Autorin eine so fesselnde Art zu erzählen, obwohl eigentlich nichts erzählenswertes passiert. Wir begleiten Francie über viele Jahre, sehen ihr dabei zu, wie sie zur Schule geht, herausragende Aufsätze schreibt, Arbeit in Manhattan findet, sich verliebt. Und immer ist die Geschichte von Francie nicht nur die Geschichte eines heranwachsenden Mädchens, sondern die Geschichte eines ganzen Stadtteils, dem Geruch, der Atmosphäre, dem Licht von Brooklyn. 

Eine Milieustudie, die selbst nach so viele Jahren (das Buch erschien erstmals 1943) nicht gealtert ist und hoffentlich noch viele Leser findet. 

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